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Leben? Schreibpassion

»Die Belagerung der Welt« - die Journale von Paul Nizon in einer verdichteten Sammlung

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es gibt Tagebücher, die ein Gefühl vom Teufelskreis vermitteln: Ja, lies dich hinein in Protokolle und Reflexionen aller möglichen Zeiten - das menschliche Gemüt reagiert mit einem ewig gleichen Niveau der Empfindungen, Bedürfnisse und Verfasstheiten auf alles Äußere. Existieren ist eingespannt in eine Dauer, die kaum etwas an unseren Wahrnehmungsmustern ändert. Der Mensch, auch wenn er ein jeweils Einmaliger ist, bleibt letztlich jenes Wesen, das - wo auch immer und wann auch immer - auf Zerstäubung hinlebt, und das den Künftigen einzig die Kunde von Wiederholungsschleifen hinterlassen kann. Dem Leser von Tagebüchern bleibt daher am Ende hauptsächlich eine Stimmung zwischen Melancholie und Erschrecken.

Sind die Tagebücher von Paul Nizon anders? Der Schweizer, einer der berühmtesten Unbekannten der europäischen Literatur, hat Romane geschrieben, Erzählungen - den Roman seines Lebens aber bildet, seit Jahrzehnten, dieses Leben selbst: jedweder Tag als literarischer Gegenstand; die Wirklichkeit als schönste Setzung wider alles Erfundene; Journale als das eigentliche Werk. Am Schreibtisch sitzen, den Gedankenströmen und Gefühlswogen, der Reflexionsfülle ebenso folgen wie der Lethargie - alles aufschreiben, und zwar so, wie es Heiner Müller zum Ideal erklärte: Sprache als Versuch, um »auf das Niveau der eigenen Träume« zu kommen. Der Wachträume, der Albträume, der Erinnerungsträume, der Gierträume, der Träume vom ganz anderen Leben.

Nizon sprang ins Leben und nahm keine Rücksicht darauf, ob er aufs Tiefe oder ins Flache, auf Zugefrorenes oder in den Sumpf, ins Kalte oder Heiße sprang; er sprang - er sperrte seine Existenz ins unablässige Schreiben und fand so zur Freiheit. Zur Entfesselung, die ihn ein für allemal festzurrte. Verlor sich in Liebe, kam zu Ruhm, aber verfehlte letztlich den Reichtum, fand nie den richtigen Sicherheitsabstand zu den Glücksversprechen dieser lockenden, lüstern leichten und lasterschweren Welt. Er loderte und verlosch, um immer wieder neu zu entflammen. Kein Talent für Verzicht, keine Gabe für Entsagung, keine Fähigkeit zur Mäßigung. Und: kein Thema, kein spezieller Stoff, keine Moral, keine Botschaft - einfach nur immer aufnehmen, was die Augen melden; nicht analysieren, sondern sprachverwandeln, im Banalsten dichterisch werden - und bleiben. Koste es, was es wolle. Es kostet Freunde, es kostet die Fasson, es kostet genau die Kraft, die aber draufgehen muss, um einen Titanen der Selbsttreue zu zeugen. Der nur um so wilder wird, je schwächer ihn die Welt sehen will.

»Die Belagerung der Welt« heißt der Band, im Untertitel »Romanjahre« - eine verdichtete Collage aus den zahlreichen Journalen, die der 1929 Geborene schrieb. Sohn eines russischen Emigranten und einer Bernerin. Seit 1976 lebt er in Paris. Wurde von Siegfried Unseld entdeckt, veröffentlicht seither im Suhrkamp Verlag. Belagerung der Welt? Wer belagert hier wen?

Im Tagebuch wird die Unverwechselbarkeit und Unübertragbarkeit eines Daseins aufgerufen, und wir erleben dessen Feier, als fortwährenden tollen und tollwütigen und törichten und taumelnden Tanz hinaus aus dem Schatten der Austauschbarkeit, des existenziellen Gleichstroms. Das Kriegerische und das Kindliche, das Gute und das Gefräßige, das Transzendente und das Triviale, das Gockelhafte und das Säuische, die Geldnot und die Geltungssorgen, das Peinvolle und das Peinliche, das Wichtige und das Wichtelmännische - all das bildet bei Nizon ein die Jahre übergreifendes, die Zeitläufte durchwurzelndes Geflecht der Gleichzeitigkeit.

Um aber auf den Anfang dieser Zeilen zurückzukommen: Dies Journal wäre keine wahrhaftige Literatur, offenbarte es nicht auch das Festgelegte, dem kein Mensch entrinnen kann - und das besonders jene Typus quält, der in besonderem Maße ins Exzentrische, Außergewöhnliche zielt. Was diesen Paul Nizon hebt, es zieht ihn zugleich nieder. Denn alles Erhabene eines einmaligen Erlebens, dem Journal anvertraut, es wird immer wieder auch von einer quälerischen Gewöhnlichkeit angegriffen, die den Dichter am eigenen Schreibvermögen zweifeln lässt, ihn foltert. So streift ihn eine metaphysische Angst: alles zu wollen und dadurch erst das Nichts zu wecken. Das wie ein Raubtier auf seine Sekunde des Kehlsprungs lauert.

Nizon floh die Enge der Schweiz. Reist ohne Ziel durch die Welt. Heiratet. Erkennt die Familiengründung als Irrtum - er muss weiter und weiter, und aus der Flucht vor der Enge wird ein Ankommen in der Enge: das kleine bescheidene Pariser Domizil - aber eine Startrampe für Höhenflüge, die einzig über dem weißen Schreibpapier stattfinden. Das der Fantasie Landeplätze bietet. Nizon streift durch Paris, folgt Gesichtern, ist fasziniert von Gebärden, saugt den Zauber der Zufälligkeiten in sich auf. Er beobachtet, als sauge ein Vampir. Er geht ans Schreiben nicht, wie man gewöhnlich an eine Arbeit geht. Du spürst den inneren Aufruhr, der den Worten vorausging. Nizon spricht vom »inneren Sprühen«. Freude führt ihm die Hand, als wäre sie eine Not. So wird Not lebbar. Seine größte Not: schreibend vielleicht nur im Kommentar zu bleiben, im Nachbetrachten, in der Rezension - das wäre furchtbar, denn es muss Schöpfung sein, was er in Worte zu fassen sucht. Obsession darf nichts Sekundäres zulassen. Was besitzt er denn? »Nur diese Schreibpassion in den Fingern.« Darf keine Gelegenheit verpassen, im Werk zu bleiben. So kann man das Leben in gleichem Maße packen, wie man es verpasst. Und was bleibt wirklich?

Er kennt die Einsamkeit, nach dem Scheitern des mit hohen Erwartungen gehandelten Frühwerks. Er kennt die Scham des Erfolglosen und den Zorn des Verkannten. »Die unbezahlten Rechnungen schweben wie Wasserleichen an die Oberfläche meiner Gedanken«. Er besaß, in Zürich, das Glück einer Redakteursstelle, aber eine einzige Nacht an einer Bar in Barcelona genügte für den Ausstieg, also die nächste Krise, die nächste Armut, mit Passentzug und Gefängnis. Bis endlich die Entscheidung fällt: freiwillige Isolation zwischen den Gitterstäben aus Bettlergemüt, Bürgerstolz und Bohéme-Eleganz. Das heißt: die Welt zur Halbwelt machen, den Lebensgrund in den Untergründen aufspüren, fürs Glück des Schreibens auch die finsteren Phasen lieben, also jene die Furcht vorm Versagen, vorm Versiffen. Eine Furcht, die Halt sucht bei Gefährten in Geist und Gefühl, Robert Walser etwa, Vincent van Gogh. Tote als lebendigste Gewährsleute.

Es leuchten im Band unzählige Farben, es findet ein Marathon durch die Zeiten statt, die Melodie wechselt, alles heiter, dann heiser; Tränen des Lachens mischen sich mit denen der Bitternis. Nizon ist ein leidenschaftlicher Reporter seiner selbst, ein stilvoller Essayist des Momentanen, ein überschäumend Klagender, ein so wild wie misstrauisch Liebender und Berauschter; es finden der penible Protokollant und der ungehemmte Plauderer, der Schamlose und der Zerknirschte; der Prunkende und der Schwache zusammen. Da ist Kühle, die von einem Gewebe aus Scharfsinn eingehüllt ist; dann wieder zeigt der Autor panzerlos alle Verletzlichkeit. Die anarchische Pose der Unmittelbarkeit steht neben dem Willen zur Form. Alle Seiten bleibt Nizon der, der er stets war: ein Radikaler im Ursinn des Wortes, der bei Recherchen im eigenen Leben stets zur Kardinalfrage zurückkehrt: Wer, was bin ich, welches ist meine besondere Geschichte? Schreiben, schreiben, schreiben und keine Antwort. Nichts geht zu Ende, nur weil es vorbei ist. Vor allem bewahrt sich dieser Schriftsteller das Gefühl der Unentschiedenheit - seines Selbstbewusstseins: schwankende Beständigkeit und beständiges Schwanken. Leben, sagt man.

Was ist das, Freiheit? Mehr als Freiheiten. Vielleicht der Zwang, nur sich selbst folgen zu müssen. Wüstenweg, ankunftslos. So kommt ein bewegendes Verlorenheitsschimmern ins Buch. Wir Menschen, sagt Hölderlin im Gedicht »Hälfte des Lebens«, kennen die Begeisterung, die Verzückung, die uns aller Sterblichkeit enthebt - für Momente. Um so härter dann fallen wir zurück auf den Boden unserer Unerheblichkeit. Unerlöstheit.

Einmal schaut er in die abendlich erleuchteten Wohnungsfenster einer Straße. Sieht's und denkt ans, schöne Leben in Geborgenheit. Denkt Wärme. Und schlussfolgert: »Es ist immer das andere Leben.« Ja, jedes Abenteuer der Selbststeigerung ist unter Umständen nur ein Umweg - in eine Einsamkeit, die auch als Literatur nur Elend bleibt.

Paul Nizon: Die Belagerung der Welt. Romanjahre. Herausgegeben von Martin Simons. Suhrkamp Verlag. 352 S., br., 19,95 €.

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